Risiko und trotzdem hilfreich?

Klönschnack vom Balkon: Heilsam für beide Seiten

Risikogruppe und hilfreich für andere?

Vor 5 Wochen – der Lockdown – hatte gerade begonnen – saß uns der Schock und das Unwirkliche in den Gliedern – und wir versuchten uns, mit der Situation auseinanderzusetzen.

Mittlerweile sind wir alle Profis geworden für neue Formate mit social distinging: Homeoffice, Videogottesdienste, Zoomkonferenzen – alles vertraute Begriffe und Techniken. Manch eine/r die oder der den digitalen Medien reserviert gegenüberstand, ist mittlerweile froh: es ist immerhin besser als nichts und auch wenn wir vielleicht nie dicke Freund*innen werden, so sind ist Social media doch ein gute Partner*in geworden.

Auch was die Hilfsangebote angeht, haben wir mit Kreativität und Ideenreichtum Fahrt aufgenommen und das alles – für unser sonst eher behäbiges Kirchenschiff –  in großer Geschwindigkeit. Ich bin beeindruckt, begeistert und oft gerührt. Von der befürchteten „Jede*r ist sich selbst die Nächst“-Mentalität ist nicht viel zu spüren, stattdessen große Hilfsbereitschaft und Fürsorge zum Beispiel für die Älteren.

Ja und genau da beschleicht mich ein gewisses Unbehagen. Sicher: Nächstenliebe war schon immer unser Anliegen: wer, wenn nicht wir Kirchenleute sollten uns um Kranke und Schwache kümmern, aber gleich eine ganze Bevölkerungsgruppe dazu zu  erklären, macht mich unruhig. Rutschen wir womöglich wieder in ein defizitäres Altersbild?

Und jetzt komme ich zu meinem Anliegen: Können wir uns vorstellen, dass auch diejenigen, um die wir uns in der jetzigen Zeit besonders kümmern, weil wir sie zur Risikogruppe rechnen, und weil sie nicht aus dem Haus gehen sollen , dass genau diese Menschen auch hilfreich werden können für andere?
Und wer sind überhaupt die Älteren? Nehmen wir die Kohorten von 60 – 100 Jahren, so stecken darin mindestens zwei Generationen. Das biologische Alter spielt in der Altersforschung eine eher untergeordnete Rolle; viel wichtiger sind zum Beispiel Bildung, Gesundheit und soziale Kontakte für eine ganzheitliche Altersbestimmung.

Aus vielen Studien wissen wir, dass dies die diverseste Bevölkerungsgruppe überhaupt ist. Mit dem höchsten Anteil an gesellschaftlichem Engagement. Sie trägt Verantwortung in Gemeinde, Vereinen und Initiativen, in Schulen, Kitas und in ihren eigenen Familien. Es gibt Weltenbummler*innen und Sportskanonen. Meist denken wir dann an die sogenannten jungen Alten: fit, dynamisch und mobil. Aber auch wenn Fähigkeiten nachlassen und der Unterstützungsbedarf zunimmt, heißt das noch lange nicht, dass das Interesse an der Welt und an anderen Generationen und die Hilfsbereitschaft nachlassen. Die Art der Unterstützung mag sich ändern, aber das „Helfensbedürfnis“ bleibt. Da stimmen wir Klaus Dörner zu, der diesen Begriff geprägt hat: Er spricht davon, dass jeder Mensch jeden Tag das Gefühl braucht, wichtig zu sein für andere; auch Selbstwirksamkeit ist heilsam.

Ich frage mich: Warum sollte ein Frau mit Vorerkrankungen nicht zuhause oder im Pflegeheim für andere Briefe schreiben? Oder Gebete schönschreiben, die dann an die Kirchentür gehängt werden, Segenskarten malen oder täglich jemanden anrufen, der oder die ebenfalls isoliert in seinen vier Wänden sitzt. Vielleicht hat sie auch ihr Leben lang genäht und könnte jetzt Masken fabrizieren. Warum soll nicht einer, der seine Enkel*innen nicht sehen darf, am Telefon Geschichten für die Kinder alleinerziehender Mütter oder Eltern im Homeoffice vorlesen, damit die mal ein paar Minuten konzentrierter arbeiten können oder das Essen vorbereiten.

Vielleicht sogar mit Bild, denn sehr viele der über 80jährigen verfügen über Tabletts und können mit Skype umgehen – allen Vorurteilen zum Trotz.

Meine Mutter hat einen wunderbaren Balkon im Parterre mit direktem

Zugang vom Bürgersteig: ein kleiner Tisch und zwei Klappstühle davor gestellt und sie könnte  Passant*innen und Nachbar*innen zu einem kleinen Klönschnacks einladen – sie in sicherem Abstand auf dem Balkon. Ihr fällt die Decke auf den Kopf und sie leidet unter den fehlenden Kontakten. Und statt, dass wir Kinder überlegen, wie wir sie bei Laune halten, könnte sie selbst hilfreich für andere werden. Ich glaube das wäre viel nachhaltiger.

Und wer weiß vielleicht entstehen aus diesen, aus der Not geborenen, Kontakten tragfähige Beziehungen, wenn die Krise erst einmal Geschichte ist.

Ute Zeißler

Interview mit Ingrid Kandt und Ute Zeißler zur Situation älterer Menschen in Zeiten der Pandemie.
Aus der Reihe: Das Leben mit und nach Corona

Geführt haben das Interview: Paul Steffen, Referat Engagementförderung und Jörg Ostermann-Ohno, Arbeitsstelle Weitblick /Ökumene
Kirchenkreis hamburg-West/Südholstein
https://arbeitsstelle-weitblick.de/der-zukunft-zugewandt/